Mittwoch, 11. März 2009

Wolfgang Borchert: Das Brot

Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so!
In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war
still. Es war zu still und als sie mit der Hand über neben sie fuhr, fand sie es leer. Das war
es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte
durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei.
Sie sah etwas weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im
Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche. Auf dem Küchentisch stand der
Brotteller. Sie sah, daß er sich Brot abgeschnitten hatte. Das messer lag noche neben dem
Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn si abends zu Bett gingen, machte sie
immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das
Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hochkoch. Und sie sah
vor dem Teller weg.
“Ich dachte, hier wäre was”, sagte er und ash in der Küche umher.
“Ich habe auch was gehört”, antwortete sie und dabei fand sie, daß er nachts im Hemd doch
schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal
jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus.
Aber das liegt vielleicht an den Harren. Die machen dann auf einmal so alt.
“Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich
doch.”
Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, daß er log. Daß er log, nachdem sie
neununddreißig Jahre verheiratet waren.
“Ich dachte, hier wäre was”, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke
in die andere, “ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.”
“Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.” Sie stellte den Teller vom Tisch und
schnippte die Krümel von der Decke.
“Nein, es war whole nichts”, echote er sicher.
Sie kam ihm zu Hilfe: “Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest
dich doch. Auf den kalten Fliesen.”
Er sah zum Fenster hin. “Ja, das muß wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre
hier.”
Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muß das Licht jetzt ausmachen, sonst muß ich nach
dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. “Komm man”,
sagte sie und machte das Licht aus, “das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer
bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer.”
Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten füße
platschten auf den Fußboden.
“Wind ist ja”, meinte er. “Wind war schon die ganze nacht.” Als sie im Bett lagen, sagte sie:
“Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne.”
“Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.” Er sagte das, als ob er
schon halb im Slchaf wäre.
2
Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. “Es ist kalt”, sagte sie und
gähnte leise, “ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.”
“Nacht”, antwortete er und noch: “ja, kalt ist es schon ganz schön.”
Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie
atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war.
Aber sein Kauen war so regelmäßig, daß sie davon langsam einschlief.
Als er an nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot. Sonst hatte er
immer nur drei essen können.
“Du kannst ruhig vier essen”, sagte sie und ging von der Lampe weg. “Ich kann dieses Brot
nicht so recht vertragen. Iß du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut.”
Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er
ihr leid.
“Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen”, sagte er auf seinen Teller.
“Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iß man. Iß man.”
Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.


In W.B.: Das Gesamtwerk. Mit einem biograph. Nachw. Von Bernhard Meyer-Marwitz.
Hamburg: Rowohlt, 1949. S. 304-306. © 1949 Rowohlt Verlag, Hamburg.

Karl Heinrich Waggerl: Mein Stock

Mein Stock hängt an einer Lederschlaufe neben der Tür. Viele Stöcke hängen da, denn ich komme selten einmal von einer Reise zurück, ohne einen tüchtigen Stecken mit zubringen, den ich mir irgendwo unterwegs geschnitten habe. Es weht mich warm und würzig an, wenn ich einen wieder in die Hand nehme. –Tessin! denke ich. Eicheln regnet es um mich her wie in den alten Wäldern an der Alller, oder es faucht mir eine feuchter Wind entgegen, und das muss an westlichen Küsten gewesen sein; dieser Stock ist aus dem Sanddorn geschnitzt. Die meisten meiner Prügel büße ich ja bald wieder ein, sie sind zu handlich für allerlei Geschäfte im Haus, um damit in verstopften Rohren herumzustochern, und manchmal werfe ich auch selber einen hinter den Buben her, wenn sie im Garten den Vogelnestern nachtrachten. Der Stock, von dem ich eigentlich reden wollte, der mit der Lederschlaufe, kam auf seltsame Weise in meinen Besitz, es ist keine rühmliche Geschichte.

Einmal im Winter, an einem stürmischen Abend, klopfte es noch an der Tür. In solchen Zeiten lasse ich gern das Licht vor dem Haus brennen, damit mir die Nacht nicht zu nah an die Fenster kommt. Nun ging ich also verdrossen, um nach diesem späten Gast zu sehen. Der Wind riss mir gleich die Klinke aus der Hand, Treibschnee fegte in den Flur, ein verteufeltes Wetter. Draußen stand ein alter Mann auf den Stufen, ich kannte ihn. Er kam oft vorüber, klopfte und hielt mir die Hand entgegen. Nie sagte er ein Wort des Grußes oder des Dankes, er sah mich nur an mit seinen wässrigen Trinkeraugen, und ich gab ihm, was mir eben einfiel, ein Endchen Wurst oder etliche Groschen aus der Hosentasche. Über der Schulter trug er einen Stock und daran hing ein Sack, aber was mich ärgerte, war sein kahler Kopf, es lag ihm wahrhaftig schon Schnee auf dem Schädel. Da nahm ich meine wollene Haube vom Haken, ein wenig schwankte der Alte, als ich ihm die Mütze über die Ohren zog und dann ging er wortlos davon, wie die leibhaftigen guten Werke.

Das aber war der Augenblick, in dem ich mich hätte besinnen müssen. Ich hätte an die rückwärtige Kammer denken sollen, o ja, ich dachte auch daran. Dort stand ein leeres Bett bereit, Tisch und Stuhl für einen Gast und es war warm und behaglich in dieser Stube. Es gab auch noch Suppe in der Küche oder ein Butterbrot, und eine halbe Flasche Bier auf dem Fensterbrett. Aber zugleich dachte ich an mein sauberes Haus und dass dieser Kerl hereintappen würde, nass und dreckig und weithin nach Branntwein stinkend. Wie er seine Fetzen auf den gewachsten Boden fallen ließe und unter das frische Leintuch kröche, mitsamt seinem Grind und seinen Läusen. Und da schlug ich die Tür zu und ließ das ganze Unbehagen draußen, Sturm und Kälte und alles miteinander. Zwei Tage später kam der Totengräber und zeigte mir einen Stock, eine großartige Arbeit, aus Nussbaumholz geschnitzt. Den Knauf bildete ein bärtiger Kopf und auch aus den Astknoten sahen lauter Gesichter, alle mit offenen Mündern, als schrien sie aus dem Holz.

Ob ich das Ding etwa kaufen wolle? fragte der Mann. Er habe nun doch diesen Alten eingraben müssen, diesen Josef, eine Schinderei in dem gefrorenen Boden und nichts dafür zu lösen. Gut, ich nahm den Stecken für ein anständiges Geld. „Mach ihm auch ein Kreuz auf das Grab“, sagte ich. „Wann ist er denn gestorben?“ „Gestorben eigentlich nicht“, sagte der Totengräber, „erfroren“. Ich muss noch etwas hinzufügen, nur für mich, es soll niemanden beschweren: Das Böse, das wir tun, wird uns Gott vielleicht verzeihen. Aber unverziehen bleibt das Gute, das wir nicht getan haben.