Mittwoch, 23. September 2009

Priskos (410/420-vor 472): Ein Gastmahl am Hofe Attilas

Aus dem Berichte des griechischen Rhetors Priscus, welcher im Jahre 448 mit einer oströmischen Gesandtschaft an den Hof des Hunnenkönigs kam. Griechischer Text bei Niebuhr, Corpus scriptt. hist. Byzant. 1829, I, 202 fg., und Althof, Waltharii Poesis, I, S. 177 fg.

- "Als wir (1) in das Zelt zurückgekehrt waren, kam der Vater des Orestes (2) und sagte, daß Attila und beide zum Mahle lade, und zwar werde es um die neunte Stunde des Tages stattfinden. Wir beobachteten die festgesetzte Zeit, und zum Mahle gerufen, kamen wir und auch die Gesandten der Weströmer und standen auf der Schwelle Attila gegenüber. Die Weinschenken reichten uns nach der Landessitte einen Becher, damit auch wir vor dem Niederlassen einen Glückwunsch ausbringen möchten. Als wir dies gethan und aus dem Becher gekostet hatten, gingen wir zu den Sesseln, auf denen man beim Gastmahle sitzen sollte. Alle Stühle standen längs den Wänden des Gemaches an zwei gegenüberliegenden Seiten. In der Mitte aber saß auf einem Tafelbette Attila, und hinter ihm war ein anderes Tafelbett ausgebreitet, von welchem einige Stufen nach seinem Nachtlager führten, welches zum Schmuck mit feinen Linnen und bunten Vorhängen verhüllt war, ähnlich den Lagern, welche die Hellenen und Römer den Brautleuten herrichten. Für die vornehmste Platzreihe der Tafelgenossen hielten sie die Seite rechts von Attila, für die zweite die linke, wo wir waren und Berichos, ein Mann aus edlem scythischen Geschlechte, der jedoch über uns saß. Denn Onegis (3) saß auf einem Sessel an der rechten Seite des königlichen Bettes, und dem Onegis gegenüber saßen auf einem Sessel zwei Söhne Attilas. Der älteste aber saß auf dem Bette des Königs, nicht nahe bei ihm, sondern an dem Ende und sah aus Ehrfurcht vor dem Vater zu Boden. Als alle der Ordnung gemäß Platz genommen hatten, kam der Weinschenk und überreichte Attila ein hölzernes Trinkgefäß (4) voll Wein. Nachdem dieser es in Empfang genommen hatte, grüßte er den ersten im Range. Wer aber durch den Gruß geehrt wurde, erhob sich und durfte sich nicht eher setzen, als bis er entweder gekostet oder auch ausgetrunken und den Becher dem Schenken zurückgegeben hatte. Dem Attila aber, welcher sitzen blieb, bezeigten die Anwesenden auf dieselbe Weise ihre Ehrfurcht, indem sie die Becher nahmen und nach einem Heilwunsche daraus tranken. Bei einem jeden war aber ein besonderer Schenk, welcher der Reihe gemäß eintreten mußte, wenn Attilas Schenk hinausging. Nachdem der zweite und die folgenden gegrüßt worden waren, bewillkommte Attila auch uns nach der Ordnung der Sitze. Als nun alle durch Attila geehrt worden, gingen die Schenken hinaus, und es wurden Tische neben den des Attila gestellt für drei oder vier oder auch mehr Männer, von denen jeder sich von dem auf den Tisch Gesetzten nehmen konnte, ohne aus der Reihe der Sessel herauszutreten. Und zuerst trat herein der Diener Attilas, eine Platte mit Fleisch tragend, und diejenigen, welche alle bedienten, setzten nach ihm Brot und Zukost auf die Tische. Aber für die übrigen Barbaren und für uns waren üppige Gerichte zubereitet, die auf silbernen Tellern lagen; für Attila aber stand auf einer hölzernen Platte nichts als Fleisch. Einfach zeigte er sich auch in allem anderen, denn den am Schmause teilnehmenden Männern wurden goldene und silberne Becher gegeben, sein Trinkgefäß aber war aus Holz. Schlicht war auch seine Kleidung, welche keine andere Sorgfalt zeigte, als daß sie sauber war. Auch waren weder sein umgegürtetes Schwert noch die Bänder seiner Barbarenschuhe noch das Zaumzeug seines Rosses wie bei den anderen Scythen mit Gold oder Steinen oder irgend einer Kostbarkeit geschmückt. Als die auf den ersten Schüsseln aufgetragenen Speisen verzehrt waren, standen wir alle auf, und nicht eher kam der Stehende wieder auf seinen Sessel, als bis jeder nach der früheren Reihenfolge den ihm kredenzten vollen Becher Weines ausgetrunken und dem Attila Heil gewünscht hatte. Als dieser auf solche Weise geehrt worden war, setzten wir uns, und es wurde die zweite Platte, welche andere Gerichte hatte, auf jeden Tisch gesetzt. Als auch von dieser alle genommen hatten, standen wir auf dieselbe Weise auf, tranken wiederum aus und setzten uns. Als der Abend herankam, wurden Fackeln angezündet, und zwei Barbaren, welche Attila gegenüber traten, trugen von ihne verfaßte Gesänge vor, die seine Siege und kriegerischen Tugenden priesen. Auf die Sänder blickten die Tafelgenossen, und die einen freuten sich über die Gedichte, die anderen wurden begeistert, indem sie sich der Kriege erinnerten, andere aber, denen der Leib durch das Alter schwach geworden und deren Mut zur Ruhe gezwungen war, brachen in Thränen aus. Nach dem Vortrage der Gesänge kam ein scythischer Narr herein, der wunderliches und unsinniges Zeug vorbrachte und bei allen Gelächter erregte. Nach ihm trat der Maurusier (5) Zerkon ein. Ediko (6) hatte ihn nämlich beredet, vor Attila zu erscheinen, um durch seine (Edikos) Bemühung die Gattin wiederzuerhalten, welche er im Barbarenlande genommen hatte, da er bei Bleda (7) gut angeschrieben war; er hatte sie aber im Scythenlande zurückgelassen, als er von Attila als Geschenk an Aëtius (8) geschickt wurde. Aber in dieser Hoffnung wurde er getäuscht, weil Attila darüber zürnte, daß er in sein Land zurückgekehrt war. Er kam also bei der günstigen Gelegenheit des Gastmahls, und durch Aussehen, Kleidung, Stimme und zusammengestammelten Reden, in denen er lateinische, hunnische und gotische Sprache vermengte, erheiterte er alle und bewirkte, daß sie in unauslöschliches Gelächter ausbrachen, außer Attila. Denn dieser blieb unerschütterlich und sein Antlitz unbewegt, und er zeigte weder in Worten noch im Thun etwas, was Heiterkeit verriet, außer daß er den jüngsten seiner Söhne, Namens Ernas (Irnach), als dieser eintrat und zu ihm kam, in die Wange kniff und mit freundlichen Augen anblickte. Als ich mich wunderte, daß er die anderen Kinder wenig achte und allein auf diese seine Aufmerksamkeit richte, da sagte der neben mir sitzende Barbar, welcher der lateinischen Sprache mächtig war, nachdem er zuvor gesagt hatte, ich möge nichts von dem, was er mir mitteilen wolle, weiter erzählen, die Wahrsager hätten Attila verkündet, daß sein Geschlecht herunterkommen, aber durch jenen Sohn wieder in die Höhe gebracht werden würde. Als sie aber das Gelage in die Nacht hinein zogen, gingen wir fort, da wir an dem Trinken nicht länger mehr teilnehmen wollten. - - -
Unterdessen lud auch Reka, die Gemahlin Attilas, uns zum Mahle ein in das Haus des Adames, der ihre Geschäfte besorgte, und als wir zugleich mit einigen Vornehmen aus dem Volke zu ihm kamen, fanden wir freundliche Aufnahme. Denn er empfing uns mit liebreichen Worten und prächtig zugerüstetem Mahle, und ein jeder von den Anwesenden erhob sich und reichte uns mit scythischer Höflichkeit einen gefüllten Becher, und wenn man ihn ausgetrunken hatte, so umhalste und küßte er einen und nahm ihn wieder an sich. Nach dem Mahle gingen wir in das Zelt und legten uns schlafen. Am folgenden Tage lud uns Attila wiederum zur Tafel, und als wir in der früheren Weise bei ihm eingetreten waren, wandten wir uns den Tafelgenüssen zu. Es traf sich aber, daß auf dem Tafelbette zugleich mit ihm selbst nicht der älteste der Söhne, sonder Oëbarsios, der Bruder seines Vaters, saß. Während des ganzen Mahls redete er freundlich mit uns und befahl uns, dem Basileus zu melden, u.s.w. - - Nach Anbruch der Nacht entfernten wir uns von dem Mahle. - -"

(1) Priscus und der byzantinische Gesandte Maximinus, auf dessen Bitten der Erstgenannte an der Reise teilgenommen hatte.
(2) Ein Römer aus dem den Hunnen unterworfenen Päonien, welcher den Gesandten Attilas an den Kaiserhof nach Byzanz begleitet hatte.
(3) Ein vornehmer Mann und Vertrauter Attilas.
(4) Kissibion, ein Becher aus Epheuholz, wie ihn die Landleute brauchten, z.B. der "göttliche Sauhirt" Eumäus bei Homer Od. 14, 78 und 16,52.
(5) Mauritanier.
(6) Edigo, ein großer Kriegsheld, Anführer der germanischen Skiren, von Priscus unrichtig als Scythe bezeichnet, war als Gesandter Attilas vorher in Byzanz gewesen.
(7) Im Nibelungenlied Blödel, Bruder Attilas und sein Mitregent, bis er um 445 von ihm ermordet wurde.
(8) Der berühmte Feldherr des weströmischen Reiches und Besieger Attilas hatte sich einst als Geisel und später als Flüchtling eine Zeitlang bei den Hunnen aufgehalten.



Quelle: Hermann Althof: Das Waltharilied. Ein Heldensang aus dem zehnten Jahrhundert. Leipzig 1902.

Mittwoch, 16. September 2009

Arany János: Die Barden von Wales

Es reitet König Eduard
im Schritt auf seinem Falben.
"Was ist sie wert, die Landschaft Wales?
Man zeig mir's allenthalben.

Gibt's fette Äcker, saft'ges Gras,
auch Wald und firische Quellen?
Ob auch der Boden fruchtbar ward
vom Blute der Rebellen?

Und ob das Volk, das biedere Volk
sein Glück darauf gefunden,
wie ich es will, so brav und still
wie Vieh, ins Joch gebunden?"

"Wales ist fürwahr der schönste Stein
in deiner Königskrone.
Das weite Feld zeigt, gut bestellt,
daß sich die Mühe lohne.

Und auch das Volk, das arme Volk,
lebt glücklich hier, Majestät,
wenn längst auch blind die Hütten sind
und wie die Gräber öd."

Es reitet König Eduard
im Schritt auf seinem Falben.
Wohin er ritt, wohin er schritt,
war Stille allenthalben.

Er kam nach Burg Montgomery,
als schon die Sonne sank.
Montgomery, der Herr der Burg,
kredenzt ihm Speis und Trank.

Und Wild und Fisch kam auf den Tisch,
erlesne Leckerbissen.
Der Diener Schar, wohl hundert gar,
hat schwer dran schleppen müssen.

Und was man fand in diesem Land
für fürstliche Gelüste,
trug man herein, auch Sekt und Wein
von ferner Meeresküste.

"Ihr Herrn, und keiner hebt für mich
sein Glas nach alter Art?
Waliser Hunde seid ihr doch,
kein Hoch für Eduard?

Steht Wild und Fisch auch auf dem Tisch,
was Aug und Mund behagt,
ich sehe hier, daß alle ihr
den Teufel im Herzen tragt.

Elende Hunde seid ihr doch!
Kein Hoch klingt an mein Ohr?
Wo ist, der meine Taten rühmt?
Ein Barde trete vor!"

Die Herren sahn sich schweigend an,
die Gäste jäh erblichen,
auf ihrem Antlitz war der Zorn
der blassen Furcht gewichen.

Die Stimme bricht, das Wort erstickt,
der Atem scheint zu stocken.
Wie eine weiße Taube erhebt
ein Greis sich mit weißen Locken.

"Hier ist, der deine Taten rühmt.
Hör zu", spricht der Ergraute;
Geklirr von Stahl und Todesqual
entlockt er seiner Laute.

"Geklirr von Stahl und Todesqual,
blutrot der Sonne Bahn,
Blutstrom verlockt des Nachts sich das Wild,
König, das hast du getan!

Tausende hast du niedergemäht
wie Garben, Mann neben Mann.
Verzweiflung, Tränen überall,
König, das hast du getan!"

"Auf den Scheiterhaufen! Ein böses Lied!"
Hört man den König schrein.
"Ich wünsche sanfteren Gesang!"
Ein junger Bard tritt ein.

"Es säuselt sanft der Abendwind
her von der Milford-Bucht.
Er bringt der Waisen Jammerschrei:
König, du seist verflucht!

Gebier nicht, Frau, und still kein Kind
zum Sklaven für dies Reich..."
Ein Wink - und er wird abgeführt
mit jenem Greis zugleich.

Doch kühn und ungerufen stellt
ein dritter Sänger sich hin.
Sein Saitenspiel hat Klänge viel,
sein Wort nur einen Sinn:

"Die Besten fielen in der Schlacht -
vernimm das, Eduard -,
es lebt kein Barde, der dich rühmt
nach guter alter Art.

Noch unvergessen brennt der Schmerz,
vernimm das, Eduard.
Ein Fluch auf dich ist jedes Wort,
das hier gesungen ward."

"Das wird man sehn", kam der Befehl,
und alle ringsum erstarrten.
"Auf den Scheiterhaufen mit jedem Rebell,
mit jedem Waliser Barden!"

Und auseinander stob der Troß
mit dem Befehl im Lande.
So spielte sich das Festmahl ab,
Montgomerys Schmach und Schande.

Und Englands König Eduard sprengt
fort auf seinem Falben.
Rundum in Brand das ganze Land,
es lodert allenthalben.

Fünfhundert Barden, jung und alt,
den Scheiterhaufen betraten,
nicht einer war dazu bereit,
zu preisen Eduards Taten.

"Ha, ha, wer schreit? Was für ein Lied
auf Londons Straßen man hört?
Aufhängen laß ich den Lord Mayor,
wenn ein Geräusch mich stört."

Still wird's sofort an jedem Ort
aus Angst vor strengen Strafen.
Den Tod bringt schon ein lauter Ton!
Der König kann nicht schlafen!

"Ha, Pfeifen, Trommeln, Musik herbei
und schmetternde Posaunen!
Laßt nicht das Festgelag von Wales
den Fluch ins Ohr mir raunen!"

Doch über Pfeifen und Trommeln hinweg
und durch das Hörnerklingen
hört man fünfhundert Barden laut
das Lied der Märtyrer singen.

ANNEMARIE BOSTROEM

Arany János: Brückenweihe

"Verdammt! Jetzt setz ich doppelt, Leute!"
Der Jüngling sprach's, die Karte fällt.
"Um alles oder nichts geht's heute!
Mein letzter Coup, mein letztes Geld!"...
Vorbei! Verspielt! Vom Glück geprellt!...

Die Hoffnung eines jungen Lebens
vertan, zunichte jäh gemacht!
Ein Widerruf - zu spät, vergebens!
Um alles hat er sich gebracht!...
Er wankt hinaus... Schwarz ist die Nacht.

Vor ihm der Strom... Noch wehn die Fahnen,
der neuen Brücke Feierkleid,
an Margarete zu gemahnen,
die heilige Jungfrau, der man heut
sie fromm und festlich hat geweiht.

Zur Brückenmitte, wo die Streben
vernietet sind, treibt ihn sein Leid,
indes vier Türme rings anheben
ihr dumpfes Mitternachtsgeläut,
und Sternglanz blinkt im Strom verstreut.

Die Uhren hallen her von ferne
teils hell, teils tief, der Jüngling lenkt
den Blick zum Spiegelbild der Sterne,
wo spukhaft, wenn die Flut sich senkt,
ein Schwarm von Köpfen aufwärts drängt.

Jünglinge, Mädchen, Kinder, Greise!...
Neugierig scheinen sie zu sein...
Sie tauchen auf, erst flüsternd leise,
bis sie beginnen laut zu schrein:
"Kommt, weiht die neue Brücke ein!

Wer springt als erster von uns allen?"...
Ein Liebespaar in Weiß erscheint,
schwebt hoch zur Brücke, läßt sich fallen
und ruft umarmt: "Im Tod vereint!
Die Welt war unsrer Liebe feind!"

Und dann steht auf dem Brückenbogen
ein Millionär... Beifall erklingt.
"Die Schuldner haben mich betrogen!
Ich tu das nicht!" - ruft er... und springt.
Aufschäumt die Flut, die ihn verschlingt.

Der dritte tritt an die Barriere.
"Ein Wechsel platzte mir! Ich hab
verpaßt den Zahltag! Meine Ehre
ist hin! Ich wasch die Schande ab!"
- stöhnt er - und stürzt ins Wellengrab.

Die Wellen kreiseln, und der vierte,
ein Jüngling, sprungentschlossen spricht:
"Als ich die Prima absolvierte,
ging aus das Geld mir armen Wicht,
Kredit jedoch bekam ich nicht!"

Ein würdiger Greis mit weißen Haaren
schleppt sich zur Brücke nun hinauf:
"Zu lang zog ich den Lebenskarren,
der Lohn blieb aus, ich geb es auf!
Strom, nimm mich hin in deinen Lauf!"

Gelangweilt klagt dann ihre Leiden
ein Dämchen, zart geschminkt und fein:
"Ich hab es satt, mich umzukleiden
für andere tagaus, tagein!",
und stürzt sich in den Strom hinein.

Drauf steigt mit protzigem Gehabe
steifbeinig ein Skelett empor,
und knarrt: "Vor meinem Marschallstabe
floh selbst Napoleon, dieser Tor!" -
"Der Narr!" - raunt rings der Toten Chor.

Ein Bursch in Lumpen hört ihn prahlen,
springt ins Genick ihm, sodaß sie
zusammen in die Fluten fallen.
"Herr Meister" - ruft der Junge - "nie
legst du mich wieder übers Knie!"

"Steinreich war ich, doch jetzt bekommen
mir keinerlei Genüsse mehr!" -
"Die Jüngere hat der Kerl genommen,
so treu ich ihm auch war bisher!"
- Sie klagen, springen kreuz und quer.

"Das Los entschied. Ich hab geschworen
mich selbst zu richten - nun wohlan!" -
"Ich hatte alle Scham verloren,
hab mir dadurch verscherzt den Mann!
Donau, nimm du als Braut mich an!"

Dann, nicht mehr einzeln, nein, in Reihen
springen sie von der Brücke ab,
wirbeln wie Vögel hoch und schreien,
fallen wie Fische stumm hinab,
zum Tod gewillt im Wellengrab.

Schaumkronen steigen wie Fontänen,
Luftblasen quellen rings herauf.
Die Todessüchtigen kreisen, stöhnen
dem Mühlrad gleich hinab, hinauf.
Die Donau nimmt sie alle auf.

Der Jüngling starrt in dies Getümmel,
steht wie betäubt, sieht gar nichts mehr.
Und wilder stets wird das Gewimmel
in pausenloser Wiederkehr.
Jäh reißt der Sog ihn hinterher...

Wer kann dem Wahnsinn widerstehen,
der Hölle Zauber brechen, wer
die Schicksalsuhren rückwärts drehen?...
'Eins' schlägt es dröhnend, dumpf und schwer...
Der Mond sieht Strom und Brücke - leer.

MARTIN REMANÉ

Mittwoch, 9. September 2009

Goethe: Lieblich ist des Mädchens Blick

Lieblich ist des Mädchens Blick, der winket;
Trinkers Blick ist lieblich, eh er trinket,
Gruß des Herren, der befehlen konnte,
Sonnenschein im Herbst, der sich besonnte.
Lieblicher als alles dieses habe
Stets vor Augen, wie sich kleiner Gabe
Dürftge Hand so hübsch entgegendränget,
Zierlich dankbar, was du reichst, empfänget.
Welch ein Blick! ein Gruß! ein sprechend Streben!
Schau es recht und du wirst immer geben.

Goethe: Reitest du bei einem Schmied vorbei

Reitest du bei einem Schmied vorbei,
Weißt du nicht, wann er dein Pferd beschlägt;
Siehst du eine Hütte im Felde frei,
Weißt nicht, ob sie dir ein Liebchen hegt;
Einem Jüngling begegnest du, schön und kühn,
Er überwindet dich künftig oder du ihn.
Am sichersten kannst du vom Rebstock sagen,
Er werde für dich was Gutes tragen.
So bist du denn der Welt empfohlen,
Das übrige will ich nicht wiederholen.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen

Helgoland 26. August 1841

Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zum Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt -
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang -
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand -
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland.

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Narr in Verzweiflung.

Ach! Was ich schrieb auf Tisch und Wand
Mit Narrenherz und Narrenhand,
Das sollte Tisch und Wand mir zieren?...

Doch ihr sagt: "Narrenhände schmieren, –
Und Tisch und Wand soll man purgieren,
Bis auch die letzte Spur verschwand!"

Erlaubt! Ich lege Hand mit an –,
Ich lernte Schwamm und Besen führen,
Als Kritiker, als Wassermann.

Doch, wenn die Arbeit abgethan,
Säh’ gern ich euch, ihr Ueberweisen,
Mit Weisheit Tisch und Wand besch……

Robert Schneider: »SCHLAFES BRUDER«

Neben Patrick Süskinds Roman »Das Parfum« (1985) ist Robert Schneiders
Roman »Schlafes Bruder« (1992) einer der wenigen Verkaufserfolge der deutschen
Gegenwartsliteratur; neues Aufsehen erregte die Verfilmung des Stoffs durch
Joseph Vilsmaier im Herbst 1995.

Inhalt:

Anfang des 19. Jahrhunderts wird der Protagonist, Johannes Elias Alder (genannt Elias) in einem kleinen vorarlbergerischen Dorf, dessen Bewohner seit vielen Jahren nur zweierlei Nachnamen aufweisen, geboren. Als leiblicher Sohn des Kurats wächst er im Hause des Seff Alder, des Ehemanns seiner Mutter, auf.

Von seiner Mutter abgelehnt und die ersten Jahre im Zimmer eingesperrt, erlebt er im Alter von fünf Jahren eine übermenschliche Verschärfung seines Gehörs, die ihn in eine mehrminütige Trance fallen lässt. Während dieses Hörerlebnisses pubertiert er lange vor der Zeit und die Iris seiner Augen färbt sich gelb, was ihm die Schandnamen „Mannkind“ und „Gelbseich“ einbringt. Von diesem Zeitpunkt an ist er besessen von der Liebe zu einem ungeborenen Kind, dessen Herzschlag er aus dem Dorf vernommen hat. Monate später stellt sich heraus, dass es seine Cousine Elsbeth ist.

Elias besitzt eine übermenschliche Gabe für die Musik. Er trainiert seine Stimme, bis er in der Lage ist, in allen erdenklichen Tonlagen zu singen und fast alle Dorfbewohner zu imitieren. Peter, sein gleichaltriger Cousin und Elsbeths Bruder, ist auf unbeschreibliche bzw. homophile Weise von Elias fasziniert. Später, als sich Elias fasziniert von der wenn auch dürftigen Orgelmusik während der Gottesdienste nachts in die Kirche schleicht, um sich selbst das Orgelspiel beizubringen, wird er sein Balgtreter.

Am Weihnachtsfest, Elias ist in seinem zwölftem Lebensjahr, entzündet Peter aus Zorn über die Misshandlungen seines Vaters den heimischen Hof. Elias, der die Flammen als erster entdeckt, rettet die schlafende Elsbeth aus dem brennenden Haus des Onkels. Der Föhnwind bläst die Flammen auf andere Gehöfte, sodass bis zum Morgen das halbe Dorf verbrannt ist. Elias allein weiß, dass Peter das Feuer gelegt hat, doch er schweigt aus Liebe zu seinem einzigen Freund.

Elias entwickelt sich zu einem, für die von sozialer Inzucht geprägten Verhältnisse des Dorfes, gut aussehenden Mann, der zudem noch fleißig und von ungewohnt vornehmer Umgangsweise ist. Nach dem Tod des wenig begabten Organisten und Dorflehrers Oskar nimmt er dessen Platz ein. Sein unbeschreibliches musikalisches Genie verschafft ihm ein hohes Ansehen, obgleich er aufgrund seines andersartigen Wesens immer ein Sonderling bleibt.

Seine Liebe zu Elsbeth wächst stetig, sie bestimmt sein ganzes Handeln und seine Musik. Als die beiden sich allmählich – rein freundschaftlich – näher kommen, überkommt Peter die Eifersucht und er arrangiert eine baldige Hochzeit zwischen seiner Schwester und Lukas, dem Sohn eines wohlhabenden Bauern. Peter begehrt Elias auf ihm unbegreifliche Weise und will ihn nicht an seine Schwester verlieren. Elsbeth, die es Zeit ihres Lebens gewohnt ist, keine Ansprüche zu stellen, fügt sich in ihr Schicksal und ist zufrieden.

Elias beginnt mit Gott zu hadern, er kann nicht begreifen, warum dieser ihn zu derartiger Liebe entbrennen lässt und Elsbeth dann einen anderen heiraten soll. Während einer verzweifelten Nacht, in der er den Herrn beschimpft und anklagt, hat er eine göttliche Vision. Als er am nächsten Morgen erwacht, ist die Liebe zu Elsbeth aus seinem Herzen, so wie das Gelb aus seinen – nun wieder grünen – Augen gewichen. Über die Leere in seinem Herzen wird Elias lethargisch und depressiv. Er beginnt sich die schmerzliche Liebe zurückzuwünschen, da er eine unerfüllte Liebe nun als erträglicher ansieht als gar keine Liebe.

Als Elias 22 Jahre alt ist, wird der Feldberger Domorganist Goller zufällig Zeuge seines schier übermenschlichen Orgelspiels. Fassungslos bittet Goller ihn zum Orgelfest nach Feldberg zu kommen. Peter, der die große Chance des Freundes wittert, überredet den antriebslosen Elias, der Einladung zu folgen, und begleitet ihn nach Feldberg.

Als Elias beim Orgelfest über den Choral „Kömm, o Tod, du Schlafes Bruder“ (aus der Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ von Johann Sebastian Bach) extemporiert, ergreift das Orgelspiel sämtliche Zuhörer auf nie gekannte Weise. Elias selbst entflammt in neuer Liebe zu Elsbeth und beschließt seinem Leben, gleich dem Gedanken des Chorals ein Ende zu setzen.

Auf dem Rückweg in sein Heimatdorf erinnert er sich der Worte eines Wanderpredigers, dem er einmal gelauscht hat und der sagte, dass ein wahrhaft Liebender niemals schlafe. Er beschließt so lange wach zu bleiben, bis der Tod kommt. Peter, der ihm schwören muss, niemandem etwas zu sagen, wird der einzige Zeuge seines mehrere Tage währenden Selbstmordes. Johannes Elias Alder stirbt letztendlich an den Tollkirschen, die er zu sich genommen hat, um nicht einzuschlafen. Peter begräbt den geliebten Freund und findet endlich Frieden.